Predigt über Markus 13, 28 – 37
Ewigkeitssonntag 2022, Twiehausen
Vor einigen Wochen war ich einmal wieder in Düsseldorf. 1976 habe dort meine Studentenbude bezogen. Als ich hier den geliehenen Ford-Combi vollpackte, war das für mich der Aufbruch in die große weite Welt. Alles neu und voller Möglichkeiten. Neue Menschen, neue Gedanken, neue Herausforderungen.
Jetzt sind wir in diesem Jahr im September meinen alten „Denkweg“ wieder abgegangen. Das Eiscafe an der Ecke gegenüber gibt es nach über 40 Jahren immer noch. Der Platz am Rhein, wo ich oft gesessen, gelesen, nachgedacht und mit Freundinnen und Freunden diskutiert
habe, ist auch noch da. Die beste Stehpizzeria ever in der Altstadt gibt es auch noch.
Als wir vor dem Haus standen, in dem ich gewohnt habe, fiel mir ein Traum von damals wieder ein. Er hat mich damals erschreckt und tut es heute noch. Dazu muss ich sagen, dass an dem Haus eine Straßenbahn vorbei fuhr. Und wenn sie über die Weiche an der Ecke rollte, wackelten im 2. Stock die Tassen im Schrank.
Eines frühen Morgens werde ich von diesem Rumpeln wach – und ich denke, das Haus ist eingestürzt. Die Außenwände sind weg. Ich sitze in meinem Bett. Alle können mich sehen – in meinem unvorteilhaften Schlafanzug. Alle können meine Angst sehen. Es ist nur eine Frage der Zeil, bis alles zusammenstürzt.
Es war nur ein Traum. Aber er hat mich doch sehr verstört. Gerade zu dem Zeitpunkt, als meine Welt begann größer zu werden, hat er mich darauf aufmerksam gemacht, wie brüchig das alles ist.
Trotzdem wurde meine Welt weiter größer. Neue Städte, neue Menschen, neue Ideen, neue Herausforderungen. - Es ist so, wenn man jung ist, wird die Welt größer. Von der Wiege auf den Spielteppich. Dann auf die Beine, die Wohnung erkunden. Dann den Spielplatz erobern und weiter in den Kindergarten, in die Schule… Neue Gegenden, neue Menschen, neue Gedanken. Die Welt wird größer. Der Mensch wird selbständiger. Aus kleinen Abenteuern werden große Abenteuer.
Und irgendwann muss man sich auseinandersetzen mit den Brüchen und Rissen. Da reichen für ein Vorhaben die Kräfte nicht. Wir werden enttäuscht von Menschen, auf die wir uns verlassen haben. Irgendwann wird klar: das eigene Ich ist ein schwankendes Bauwerk. Menschen, die wir lieben. Alte Verletzungen. Filme, die uns beeindruckt haben. Glaubensüberzeugungen. Erfolge und Misserfolge. Der Ort, aus dem wir kommen, der Ort, in dem wir leben. Alles zusammengepackt, zusammengebaut zu dem, was uns ausmacht. Das mitschwingt, wenn wir sagen: „Ich.“ Und immer, wenn etwas bröckelt, machen wir uns daran, es zu reparieren. Wir hoffen, unser Ich bewahren zu können. Wir hoffen unsere Widerstandskraft gegen die Unbill des Lebens erhalten zu können.
Aber irgendwann merkt jede und jeder, dass es nicht immer so weiter gehen wird. Unser Leben wird ein Ende haben. Im Markusevangelium sprich Jesus darüber in einem Gleichnis (Mk 13, 28ff):
An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.
Die frühe Christengemeinde war fest davon überzeugt, dass der auferstandene und in den Himmel aufgestiegene Christus bald wiederkommt. Sehr bald. Mit diesem Wiederkommen wäre alles Sorgen und Mühen zu Ende. Mit diesem Wiederkommen würde die Welt eine völlig andere werden. Wir haben es in der Lesung vorhin gehört: Gott wird bei den Menschen wohnen. Jesus wird wiederkommen und alle Tränen wird er abtrocknen. Tod, Leid, Geschrei wird nicht mehr sein.
Die ersten Christinnen und Christen waren davon überzeugt, dass dieses Ereignis schneller Eintritt als der eigene Tod. Es würde passieren, bevor sie sterben. Vor diesem Hintergrund sind die weiteren Verse aus unserem Predigttext besser zu verstehen:
„Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.
Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“
Wachet, denn wir wissen weder Zeit noch Stunde….
Es ist viel Zeit vergangen, seitdem die frühen Christinnen und Christen täglich mit dem Ende der Welt rechneten. Die Zeit verging, geliebte Schwestern und Brüder starben. Der Glaube an die Auferstehung der Toten wurde wichtiger. So wie Jesus auferweckt wurde, so werden auch die, die gestorben sind, bei seiner Wiederkunft dabei sein. Und sie werden Christus ins Angesicht schauen, Sie werden Christus ins Angesicht schauen – müssen. Mit der Wiederkunft des Messias ist die Unrechts- und Gewaltgeschichte der Welt beendet.
Für uns heute sind die jüdischen und christlichen Vorstellung vom Weltende eng verbunden mit den Vorstellungen vom persönlichen Lebensende. Es geht ineinander über. Wir hoffen, dass wir schon vor dem Ende der Welt eine bessere Welt erleben werden. Wir wissen auch, wie bedroht die Schöpfung ist und wie gewalttätig die Menschen aufeinander einschlagen. Die große weite Welt ist weiter verlockend. Aber mit dem größeren Horizont wächst auch das Unbehagen über die Ungerechtigkeit, von der wir erfahren. Und wer nachher um 17.00 Uhr den Fernseher an macht, sieht das wie in einem Brennglas. Fußballweltmeisterschaft 2022. Spaß und Begeisterung gemischt mit dem Unbehagen über Ungerechtigkeit.
Diese unsere Welt hat Risse. Nirgendwo wird es deutlicher als auf den Bildern zersschossener Häuser aus der Ukraine – oder aus dem Irak, aus Syrien, dem Jemen, Somalia, Mali …
Die Welt hat Risse – und auch unsere eigenes Leben hat Risse. Je älter Menschen werden, um so deutlicher wird das. Wenn die eigenen Kräfte nachlassen, beginnt die Welt wieder kleiner zu werden. Die große weite Welt mit ihrem Reiz und mit ihren Katastrophen tritt in den Hintergrund. Das persönliche Lebensende ist gleichzeitig für den Menschen, der es vor Augen hat, auch das Ende der Welt. Die eigene Welt wird kleiner. Die Reisen werden beschwerlicher und kürzer. Bald kommt einem der eigene Garten riesig vor. Irgendwann bleibt nur noch das Dreieck Bett, Küche, Fernseher. Vielleicht ist es irgendwann nötig, das eigene Haus, die eigene Wohnung aufzugeben. Die Welt wird kleiner: Bett und Nachttisch. Das Lebensende vor Augen, aber wir wissen weder Tag noch Stunde.
Und wenn dann jemand durch die Tür des Todes geht – stehen wir zurückgebliebenen da. Wir sind erschüttert, erstaunt, dass es so schnell ging, traurig – vielleicht auch wütend. Ein geliebter Mensch ist gegangen. Das erschüttert. Der Zeitpunkt ist immer überraschend und ungelegen. Wir müssen geliebte Menschen gehen lassen und es fehlt etwas in unserem Leben. Wir müssen uns damit „abfinden“. Unser Familienleben anpassen. Erinnerungen behalten. Aber wir können nicht alles behalten und es stellt sich die Frage: Was bleibt?
Mit dem Tod eines geliebten Menschen bekommt auch das eigene Leben Risse. Wir werden erinnert, dass auch das eigene Leben endlich ist. Vielleicht werden wir auch irgendwann auf einem Bett sitzen, in einem unvorteilhaften Nachthemd oder Schlafanzug. Alles, was uns geborgen und geschützt hat bröckelt weg. Alle können unsere Angst sehen.
Es tut weh, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber es tut auch weh, an die Brüchigkeit des eigenen Lebens erinnert zu werden. Trauern bedeutet mit dem Verlust und dem Schmerz umzugehen – und auch mit der eigenen Angst. Klug werden sollen wir darüber, schreibt der Dichter des 90. Psalms (Vers 12): Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir als kluge Menschen leben.
Klug sein, dass bedeutet, diese eigene Angst nicht zu verdrängen, aber sich auch nicht von ihr verrückt machen zu lassen. Die Trauer wird kleiner werden und es wird wieder mehr Platz für Freude sein. Die Angst wird bleiben. Sie macht uns wachsam und achtsam. Sie gehört zum Leben. Aus der Angst erwächst der Mut, das eigene Leben zu Leben. Aus der Angst wird das Vertrauen entstehen, sich in Gottes liebender Hand zu wissen.